Erinnerungen an den letzten Pyrmonter Zöllner, den Tunnenwulf
Über das Gasthaus von Paul Drüge habe ich vor ein paar Tagen berichtet und dabei auch die zweite Zollstelle in Oesdorf erwähnt, um die es jetzt in dieser Geschichte gehen soll. In den 1950er Jahre schienen Artikel wie diese für die damaligen Leser von großem Interesse zu sein. Ich habe den Artikel diesmal fast unverändert übernommen, obwohl er an einigen Stellen etwas eigentümlich und widersprüchlich klingt. Vorab noch eine kurze Begriffserklärung: Der hier genannte Zöllner wird "Tunnenwulf" genannt, im norddeutschen Raum ein plattdeutscher Begriff für einen ungepflegten, dicklichen Menschen.[1] So... genug der Vorrede; jetzt die Geschichte:
Er entwischte dem „Tunnenwulf” [2]
- Eine Geschichte um den letzten Zöllner, den Tunnenwulf, am Salinen "Vogelbauer" -


Eine Zollbarriere — wie es sie zu Urgroßväterzeiten noch unzählige in deutschen Landen gab — war damals meist mit einer Gastwirtschaft kleineren oder größeren Stiles verbunden. Man fand sie am Eingang oder Ausgang der Orte. In Oesdorf war das der „Schwedenkrug“ — wie diese Stelle ursprünglich hieß —, der spätere „Alte Krug“, heute Alt-Heidelberg (Lortzingstraße 21). Die Wirtschaft mag den Namen oft gewechselt haben,aber das Haus steht noch heute an der alten Stelle.Um 1788 befand die Barriere sich jedoch bereits schon an der heutigen Lortzingstraße, rechter Hand am Ausgang von Oesdorf. Die Wirtschaft führte den Namen „Zum letzten Heller“. Die Zollschranke wurde in den 1840er Jahren nach der Saline verlegt und um die Jahrhundertwende aufgehoben. Das Gast- und Zöllnerhaus war das „Gasthaus zur Saline“. Es hatte eine eigenartige Form, war sehr klein, und im Volksmunde nannte man es „Vogelbauer“. Es war am Anfang der 1890er Jahre, als mich meine Mutter mit zwei leeren Flaschen losschickte, um im Verein mit anderen Kindern Salzbrunnen von der Saline zu holen. Als uns der Brunnenwärter der Wolfgang-Goethe-Quelle die Flaschen gefüllt hatte, verbanden wir diese mit dünnen Zwirn- oder Bindfäden, damit uns die Korken nicht wegflogen; denn der Brunnen enthielt damals sehr viel Kohlensäure,auch tranken wir Kinder an Ort und Stelle nur wenig Brunnen, weil er so stark in der Nase „kriwelte“, wie wir es nannten. Auf dem Rückweg nach unserem Heimatdorf verhielten wir erst ein wenig auf der alten Holzbrücke, die sich, hier über die Emmer spannte. Jeder alte Pyrmonter wird mir recht geben, wenn ich sage, daß dieses Stückchen Erde damals ein Idyll war und es für uns Kinder viel zu sehen gab. Wo sich heute die moderne Dringenauer Mühle mit Turbinenantrieb erhebt, stand damals noch die alte Wassermühle. Die Emmer setzte nicht nur das mächtige Wasserrad der Mühle in Bewegung, sondern auch die alte Sägemühle, die rechts von der Mahlmühle stand, außerdem das Pumpwerk, das von der Brücke gut zu beobachten war, und das ich immer am meisten bewunderte. Mittels eines schwierigen technischen Systems wurden beide Werke in Betrieb gesetzt. Ununterbrochen bewegte sich dieses fast ganz aus Holz gefertigte Gestänge des Pumpwerks hin und her, holte das Solbadewasser oberhalb des Bahnhofs aus der Erde und trieb es durch die hölzernen Röhren in das Salinenbadehaus. Als wir auf dem Heimweg am „Vogelbauer“ angelangt waren, gesellte sich noch ein älterer Junge zu uns, der seinem auf der Mühle beschäftigten Vater täglich das Essen bringen mußte und der hier über alles sehr gut Bescheid wußte. Nachdem wir die alte Sägemühle erreicht hatten, forderte er uns auf, auf den hier lagernden Holzstämmen Platz zu nehmen, aus denen die für den Badebetrieb benötigten hölzernen Leitungsrohre von 14 Fuß Länge gebohrt wurden. Plötzlich rief unser älterer Gefährte: „Paßt upi — Gleek kümmt Tunnenwulf." — (Wir Kinder sprachen außer der Schule fast alle noch plattdeutsch). Mit „Tunnenwulf“ aber meinte er den Zöllner; wie wohl fast alle Pyrmonter einst noch einen Beinamen hatten. Der Zöllner kam jetzt aus dem Vogelbauer (Zollhaus), trat an einen Mann heran, nahm ihm Geld ab und händigte ihm einen Zettel aus. Wie ich hörte, mußte der Fußgänger zwei Pfennig bezahlen. Gespannt achtete ich auf alles was hier passierte. „Jetzt kümmt einer, de fleitget Tunnenwulf an!“ rief der Junge von vorhin wieder. Ich sah nun auch, daß dort vor Cordes Maschinenfabrik, wo sich etwas später die erste Dreschmaschine im Betrieb befand, ein Bauer mit einem Wagen hielt, auf dem einige Säcke lagen. Als der Zöllner sich anschickte, in den Vogelbauer zurückzukehren, zottelte der Bauer an seinen beiden Pferden, setzte den Wagen immer schneller in Bewegung, um mit ihm im Hurra um die Ecke des „Vogelbauers" zu sausen. Der Zöllner kam herausgelaufen, forderte den Bauern auf, zu halten und den Zoll zu entrichten. Jedoch vergebens. Der erstere wetterte und fluchte, lief hinter dem Wagen her, doch der behäbige, gedrungene Mann mit dem ins Rötliche schimmernden, kurz geschorenen Vollbart holte den Wagen nicht mehr ein. Dazu trug er hölzerne Pantinen in der Art der Holländer. Als der Zolleinnehmer einsah, daß er es doch nicht schaffte, bückte er sich, zog den einen „Holtschen“ (so wurden die Holzschuhe damals genannt) vom Fuß und warf diesen hinter dem Flüchtling her. Er traf ihn auch noch soeben in den Rücken, der Holtschen aber fiel rückwärts zwischen die Säcke, und der Zolldefraudant nahm noch obendrein den Holtschen als Siegestrophäe mit. Der Zöllner wetterte nutzlos; humpelnd kam er zurück, weil auf den spitzen Steinen der bloße Fuß schmerzte. Zähneknirschend hob er die Faust und rief dem eben unter der Bahnunterführung verschwindenden Gefährt nach: „Teuf man, döe Eumel, döe kümmst auk mal wihr trügge!“ Als wir auf unserem weiteren Heimweg den Königsbrink erreicht hatten, sahen wir just den Bauern oben auf der Straße nach dem Mühlenberge mit seinem Gespann im Walde untertauchen ...
- ↑ siehe https://hillerplatt.de/
- ↑ Artikel in den Pyrmonter Nachrichten vom 11.01.1956